Aller Anfang ist schwer: Warum wir uns so schwer mit dem Neuen tun
„Und jedem Anfang wohnt ein Schauer inne …“ – so hätte es doch eigentlich in Hermann Hesses Stufen-Gedicht heißen sollen. Anfänge – brrrr – da kommen einem die wildesten Befürchtungen in den Kopf.
Etwas Neues zu beginnen bedeutet, sich in unbekannte Gewässer zu begeben, ohne zu wissen, was da alles so herum schwimmt. Weshalb es uns so schwer fällt, Neues anzufangen, warum wir es trotzdem weiter tun sollten und wie wir uns dafür wappnen können – das verrate ich dir in diesem Beitrag.
Die Macht der Gewohnheit
Alles an seinem Platz, das WLAN verbindet automatisch, man kennt sich und alles läuft wie geschmiert. Wir gewöhnen uns ein und genießen es, vom Vertrauten umgeben zu sein. Das betrifft nicht nur unser Zuhause, sondern auch die Arbeit, unsere Freundeskreise, unsere Freizeit … Und das ist gut so. Je besser wir uns auskennen, umso weniger Zeit und Gedanken müssen wir investieren. Das Vertraute verleiht uns Sicherheit und Selbstbewusstsein. Unser persönliches Heimspiel.
Deshalb neigen gerade ängstliche, schüchterne und introvertierte Menschen dazu, die gewohnten Kreise nicht zu verlassen. Kaum tritt man über die Grenzen, beginnt das Gestolpere. Jede Bewegung fühlt sich irgendwie komisch an. Wie muss Laufen nochmal aussehen? Sitze ich schon zu lange in dieser Haltung? Wie begrüße ich die Person mir gegenüber? Es ist, als hätte man das Menschsein völlig vergessen. Wir wechseln in den Alien-Modus und betreten einen fremden Planeten.
Was Anfänge so bedrohlich erscheinen lässt
In Anfängen steckt immer das Neue, das Unbekannte. Wir tun etwas zum allerersten Mal. Egal ob im Kleinen, wenn wir ein neues Hobby ausprobieren, oder im Größeren, bei einem Jobwechsel. Die Ängste und Befürchtungen sind doch mehr oder weniger immer die gleichen:
😱 Ich könnte mich blamieren
Was wir am wenigsten wollen: im Mittelpunkt stehen, auffallen. Wenn wir etwas Neues beginnen, begleitet uns aber genau dieses Gefühl die ganze Zeit über. Es ist dieses Unbehagen, alle würden sehen, dass man sich nicht auskennt und deshalb besonders genau hinschauen. Dadurch entsteht die Befürchtung, sich blamieren zu können. Denn die anderen können es ja so viel besser.
😱 Es könnte die falsche Entscheidung gewesen sein
Probiert man eine neues Computerspiel aus und merkt, dass es doch nicht das richtige für einen ist – Schwamm drüber. Hat man jedoch mehr investiert, die alte Wohnung gekündigt oder teures Equipment angeschafft, sieht das schon ganz anders aus. Jetzt muss es auch funktionieren! Mit dieser Erwartungshaltung steigt der Druck auf den Anfang: hier entscheidet sich vermeintlich, ob die getroffene Entscheidung auch die richtige war. Dieser Druck muss dabei gar nicht nur von einem selbst kommen. Oft schauen auch die Eltern oder Freund:innen genauer hin, wenn man den Schritt endlich gewagt hat.
😱 Ich könnte mich unwohl fühlen
Gar nicht so banal ist die Befürchtung, sich im Neuen nicht wohl zu fühlen. Und das nicht nur, weil alles so fremd ist, sondern auch weil man noch gar nicht weiß, was einen erwartet. Was, wenn die neuen Mitschüler:innen meinen Humor nicht verstehen? Was, wenn ich gar kein Talent für diesen Kurs habe? Was, wenn es zu laut, zu kalt, zu ungemütlich ist? Das bevorstehende Unbekannte gibt uns genügend Raum für die gruseligsten Phantasien.
😱 Ich habe nur diese eine Chance
Am Anfang werden die Weichen gestellt. Es gibt nur eine Chance für einen ersten Eindruck. Mit dem ersten Pinselstrich wird sich zeigen, ob ich wirklich zum Malen geboren bin. Auch durch diese Gedanken erhöhen wir den Druck auf den Anfang. Alle Augen sind auf diesen Moment gerichtet, von dem alles abhängt. Das ist die einzige Gelegenheit – capture it or just let it slip.
😱 Ich könnte scheitern
All diese Befürchtungen schüren diese eine Angst, die so vielen von uns in den Knochen steckt: ich könnte scheitern. Der Anfang wird die Wahrheit enthüllen, die ich doch tief in mir sowieso schon weiß: ich bin nicht gut genug, ich bin nicht geeignet, ich habe das nicht verdient. Und diese Angst nimmt uns nicht nur jegliche Freude am Anfangen, sondern wirft uns gleichzeitig noch jede Menge Knüppel zwischen die Beine. Bis wir gar nicht anders können als zu scheitern.
Warum es Anfänge braucht
Also lassen wir das besser mit den Anfängen? Nein, das soll nicht die Schlussfolgerung des Beitrags sein. Ich will dich ermutigen, Neues auszuprobieren und dich für die Schönheit des Anfangens zu öffnen – wohlwissend, wie schwer das manchmal sein kann.
Wenn wir uns unsere Komfortzone als einen Kreis vorstellen, der auf den Boden aufgemalt wurde, dann hocken wir innerhalb dieses Kreises. Wir fühlen uns hier wohl – und das ist gut so. Einen Anfang zu wagen bedeutet immer, einen Fuß über den Rand des Kreises hinaus zu setzen. Wir verlassen unsere Komfortzone – und auch das ist gut so. Neue Erfahrungen können jede Menge positive Effekte auf unsere Psyche haben und uns langfristig glücklicher machen. Hier ein paar Gründe, warum das so ist:
Schon ab der ersten Sekunde eines Anfangs machen wir Erfahrungen, die uns niemand mehr nehmen kann. Lernen wir etwas Neues, erweitern wir langfristig unser persönliches Repertoir, auf das wir immer wieder zurückgreifen können. Ein wichtiger Baustein, für unsere persönliche Entwicklung.
👉 Wir lernen uns selbst besser kennen
Uns in ungewohnte Situationen zu begeben bedeutet auch immer, etwas Neues über uns selbst zu lernen. Wie verhalten wir uns? Wie gut können wir das? Was macht das mit uns? Lass dich von dir selbst überraschen und lerne Seiten von dir kennen, die du noch nicht erahnt hast.
👉 Der nächste Schritt fällt uns noch leichter
Haben wir uns einmal aus unserer Komfort-Zone gewagt, wird der nächste Schritt schon gar nicht mehr so schwer sein. Wir können den Mut zum Neuen trainieren wie einen Muskel. Je häufiger wir uns ins Unbekannte begeben, desto weniger werden wir uns darüber den Kopf zerbrechen. Dieses neu gewonnene Selbstbewusstsein wird uns auch in alltäglichen Lebenssituationen zugutekommen.
👉 Wir werden interessanter
Häufig erzähle ich in Unterhaltungen, was einem Freund tolles passiert ist oder welche erstaunliche Erfahrung die Frau aus einem Podcast gemacht hat. Denn über mich zu berichten, da fehlt es mir leider an Gesprächsstoff. Neue Erfahrungen, Erlebnisse und Versuche reichern nicht nur dein Leben, sondern auch deine Geschichte an.
One day baby, we’ll be old
Oh baby, we’ll be old
And think of all the stories that we couldn’t told
Asaf Avidan
Wie wir besser mit Anfängen umgehen können
Wir machen das also mit den Anfängen. Aber das bedeutet nicht, dass wir völlig unvorbereitet in sie hineinstolpern müssen. Ein paar Tipps und Gedanken möchte ich euch mit an die Hand geben, um euch das Anfangen zu erleichtern.
🐣 Am Anfang stehen alle am Anfang
Neu zu sein ist eine ganz alltägliche Erfahrung, die jeder von uns immer wieder macht. Es ist völlig normal, dass wir noch nicht alle Regeln kennen, noch nicht alle Codes entschlüsselt haben. Meine Mutter meinte mal, dass selbst ein Topmanager an seinem ersten Arbeitstag erstmal lernen muss, wo der Lichtschalter ist. Die Menschen um uns herum haben deshalb auch mehr Verständnis für Fehltritte, als es uns manchmal bewusst ist.
🫶 Teile deine Ängste und Sorgen
Uns fällt es oft nicht leicht, unsere Ängste vor anderen zuzugeben. Doch nur wenn wir den Mut aufbringen und unsere Gedanken offen mitteilen haben wir auch die Chance, Rückhalt, Zuspruch und Unterstützung zu erhalten. Dabei muss es sich nicht um eine Person handeln, die in direktem Zusammenhang mit dem Anfangen steht. Such dir jemand Außenstehendes. So erhältst du auch gleich eine ganz neue Perspektive auf das Thema.
✌️ Zum ersten Eindruck gehören immer zwei
Wenn es eher die soziale Komponente ist, die uns Kopfzerbrechen bereitet, hilft vielleicht folgender Gedanke: zu einem ersten Eindruck gehören immer zwei. Das bedeutet, auch deine neuen Kolleg:innen, deine neuen Vereinsmitglieder, deine Dates sind in der Verantwortung, dass dein Anfang eine gute Erfahrung wird. Fühlst du dich unwohl, unter Druck und fehl am Platz, dann liegt das nicht (nur) an dir, sondern auch an deinem Gegenüber!
“Sei du selbst!”, “Bleib authentisch!” – grundsätzlich stimme ich diesen Lebensweisheiten natürlich zu. Jedoch finde ich das nicht in jeder Situation angebracht. Für manche Momente öffne ich in meinem Kopf den Kleiderschrank und stülpe mir eine vorgefertigte Persönlichkeit über. Da gibt es die Rolle, in die ich schlüpfe, wenn ich bei meiner Ärztin anrufen muss, wenn ich ein Meeting moderiere oder wenn ich im Baumarkt nach dem Schleifpapier frage. In Situationen, die mir unangenehm sind helfen mir diese Rollen, mich du distanzieren – nicht ich muss da durch, sondern mein “Character”.
Nimm dem großen Unbekannten den Schrecken, in dem du dich so gut es geht im Voraus informierst. Fängst du zum Beispiel einen neuen Job an, schau dir online auch ein bisschen die Umgebung des Arbeitsplatzes an. Wo könntest du in der Mittagspause etwas zu Essen holen? Wo spazieren gehen wenn du mal Zeit für dich brauchst? Viele Unternehmen stellen ihre Mitarbeitenden online mit Fotos vor. Lerne doch schon mal ihre Namen vor dem ersten Tag und schwupps, fühlst du dich ein bisschen sicherer.
🏋️♀️ Trainiere deinen Anfang-Muskel und habe Spaß dabei
Ich habe es oben schon angesprochen: Je öfter du etwas anfängst, umso leichter wird es dir fallen. Wenn du dich noch vor den großen Anfängen scheust, probiere es doch erst einmal mit kleineren. Gehe mal in einem anderen Laden als gewohnt einkaufen, erkunde einen dir noch unbekannten Bezirk deiner Stadt, probiere dich künstlerisch aus oder erfinde einen neuen Look, mit dem du dich auf die Straße traust. Dann lernst du, dass Veränderung auch Spaß macht, belebt und dir schöne Erinnerungen verschafft.
🤡 Blamiere dich – und lache darüber
Du bist beim neuen Tanzkurs aus dem Takt? Dein erstes Vogelhäuschen ist noch am ersten Tag vom Baum gefallen? An deinem ersten Tag beim neuen Ehrenamt bist du über deine eigenen Schnürsenkel gestolpert? Haaach, da läuft uns ein Schauer über den Rücken – es sollte doch so schön werden. Und das wird es! Lächel über solche Momente, denn sie werden vergehen. Und mit jedem neuen Versuch wird es besser! Lieber eine Chance vermasselt haben, als sie gar nicht erst zu ergreifen. Frag doch mal einen bekannten Profi auf seinem Gebiet, wie seine Anfänge so waren. Ich bin mir sicher, er oder sie wird dir so einige Geschichten des Scheiterns, Schämens und Weitermachens erzählen können.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Hermann Hesse
Nur Mut, die Anfänge sind nicht so bedrohlich wie sie uns erscheinen. Es ist okay nervös zu sein, doch lass den tobenden Befürchtungen in deinem Kopf nicht zu viel Auslauf. Wage dich ins kalte Wasser, du musst auch keinen Kopfsprung hinlegen. Ich bin mir sicher, du wirst die schönsten Geschichten schreiben. Und nun bleibt mir nur noch zu sagen: fang an! 💪
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Du hast das Gefühl, alles was du anfängst geht schief? Vielleicht hast du einfach gerade eine Pechsträhne – stolper doch mal hier rein.