Jenseits unserer Komfortzone
Warum wir unseren Wohlfühlbereich auch mal verlassen sollten
“Raus aus der Komfortzone!” rät uns jedes Standard-Motivationsbuch. Ja, aber wohin denn? Was verbirgt sich eigentlich hinter den Mauern dieses bequemen, wohlig warmen Wohlfühlbereichs? Und was habe ich davon, mich dort hinaus zu trauen?
In diesem Beitrag verrate ich dir, was genau es eigentlich mit unserer Komfortzone auf sich hat, welche anderen wunderbaren Zonen es noch zu entdecken gibt und welche Gefahren das unbekannte Hinterland birgt. Ich will dich ermutigen, den Schritt nach draußen zu wagen, aber auch deine Komfortzone zu feiern, die so wichtig für unser aller Gesundheit und Wohlbefinden ist.
Unsere geliebte Komfortzone
🛋️ Auf dem heimischen Sofa, die dicken Wollsocken an den Füßen, den Lieblings-Snack griffbereit – so würden vermutlich viele von uns ihren absoluten Wohlfühlbereich beschreiben. Neben den materiellen und komfortablen Aspekten, zeichnet er sich besonders durch die emotionalen Werte aus: wir fühlen uns sicher, geborgen, sind umgeben von Vertrautem. Wir sind in unserer Komfortzone.
Was genau ist eigentlich die Komfortzone?
Der Begriff wird häufig nicht so positiv verwendet, wie er sich anfühlt: er soll jemanden als träge, langweilig und bequem beschreiben, manchmal auch als schüchtern, unsozial und isoliert.
Bei der Komfortzone denken wir zuallererst an das Häusliche, unsere eigene Wohnung, in der wir ganz wir selbst sein können. Und damit sind wir schon bei einem ganz wesentlichen Punkt dieser Zone: wir müssen uns nicht verstellen. Wir haben uns eingelebt in diesem Ort, kennen uns gut aus und werden gut gekannt. Hier finden wir die Ruhe, um unsere Akkus aufzuladen, den Stress des Alltags abzuschütteln und unseren Kopf einfach mal abzuschalten.
Die Komfortzone hält uns gesund
🍵 Deshalb ist unsere Komfortzone auch besonders wichtig für unsere mentale Gesundheit. Besonders als introvertierte, ängstliche oder hochsensible Person, sind wir tagtäglich äußeren Reizen und Situationen ausgesetzt, die uns ganz schön unter die Haut gehen können. Deshalb können wir auf unseren Zufluchtsort nicht verzichten.
Doch der Begriff beschreibt nicht nur einen physischen Raum, in dem wir uns wie in einer Höhle verkriechen, wenn draußen wilde Stürme toben. Auch unsere Gewohnheiten, Talente und Routinen sind Teil dieser Zone. Sich in der eigenen Komfortzone zu bewegen bedeutet, im vertrauten Rahmen zu agieren, ohne sich mit neuem, unbekanntem Terrain auseinandersetzen zu müssen. Das macht die Komfortzone so attraktiv für Menschen, die sich schwer damit tun, sich in fremde Gewässer zu begeben. Nicht selten hat es besonders für sie die Folge, dass sie zunehmend Zeit in ihrer Komfortzone verbringen und Strategien entwickeln, diese so selten wie möglich verlassen zu müssen.
Unsere Komfortzone schrumpft
Eigentlich auch kein Problem. Man kann sehr gut ein glückliches Leben in der eigenen Komfortzone führen. Und es gibt sicher nicht wenige Menschen, die auch genau das tun. Doch was macht es mit uns, wenn wir uns immer nur von den warmen Wellen unserer vertrauten Wasser tragen lassen?
Ich stelle mir die Komfortzone wie eine Haut vor, die sich um all unser gewohntes Wohlgefühl spannt. Sie zieht sich über unser Zuhause, unsere liebsten Freundschaften, unseren Alltagstrott … Sie ist so straff gezurrt, dass sie keinen Raum für Neues lässt – im Gegenteil – sie verdrängt immer mehr Dinge aus unserem Leben, kaum dass sie beginnen, uns fremd zu werden.
👉 Ein Beispiel: Schließt unser Lieblingscafé für eine Renovierung, sodass wir es einige Monate nicht besuchen können, wird es aus unserer Komfortzone geworfen. Nach dieser längeren Zeit fühlt sich ein Café-Besuch plötzlich nach einer zu hohen Schwelle an. Wir beginnen zu zweifeln: Was, wenn plötzlich ganz andere Menschen dort sind? Was, wenn sie nicht mehr den gleichen Kuchen servieren? Was, wenn ich meinen Tisch nicht mehr an seinem gewohnten Platz finde?
Und schon schrumpft unsere Komfortzone um die Größe eines Cafés und allem, was damit zusammenhängt, ein. Man kann sie auch als einen Muskel verstehen, der in sich zusammenfällt, wenn man ihn nicht trainiert.
🤷♀️ “Na und?”, fragst du dich vielleicht, “… bleibt mehr Zeit für die Lieblingsserie”. Dieser Schrumpfungsprozess geschieht schleichend und für uns kaum wahrnehmbar. Vielleicht blicken wir irgendwann zurück und uns wird bewusst, dass wir viele Dinge verloren haben, die wir einst so gerne mochten. Viele beschrieben nach Ende des Corona-Lockdowns, dass es ihnen schwer fiel, wieder unter Menschen zu sein. Auch über zwei Jahre später ist diese Überforderung noch spürbar. Das zeigt, wie drastisch diese Entwöhnung stattfinden kann – selbst bei sonst eher extrovertierten Menschen.
Das ist für mich das überzeugendste Argument, die eigene Komfortzone hin und wieder zu verlassen, den Entdecker-Muskel zu trainieren und so nicht aus der Übung zu geraten. Um gut darauf vorbereitet zu sein, ist es nützlich, sich damit zu befassen, was eigentlich außerhalb der Komfortzone auf uns wartet.
Was liegt außerhalb der Komfortzone?
Was sehen wir, wenn wir mal einen Blick über den Rand unserer Komfortzone werfen? Die Unkomfortzone? In der alles kneift und kratzt? Nicht ganz. Denn tatsächlich hält auch dieser “Ort” viele schöne Dinge für uns bereit. In der Persönlichkeitsentwicklung verwendet man zur Darstellung ein Zonenmodell, welches je nach Quelle zwischen drei bis fünf Zonen unterscheidet. Ich halte die genauere Gliederung in fünf Zonen für durchaus notwendig.
Demnach gibt es neben der Komfortzone vier weitere Zonen, die sich wie Schalen einer Zwiebel um unseren Wohlfühlbereich legen:
👉 Jochen arbeitet in seinem gewohnten Job im Blumenladen. Eines Tages entscheidet seine Chefin, dass er zukünftig auch Blumensträuße binden soll. Das hat Jochen noch nie gemacht. Er ist etwas nervös, weiß aber, dass seine Chefin geduldig ist und kann sich so genug Zeit nehmen, das Blumenbinden zu lernen.
👉 Nachdem Jochen sein Talent für das Blumenbinden unter Beweis gestellt hat, lässt die Chefin ihn auch Kundengespräche außerhalb des Ladens führen. Ein großer Schritt für Jochen, der doch eher schüchtern und unsicher ist. Er verlässt sein vertrautes Terrain, ist auf sich allein gestellt und macht anfangs sicher noch viele Fehler. Doch er wächst an dieser Erfahrung und gewinnt dadurch ein Selbstbewusstsein, das ihn auch in anderen Lebensbereichen stärkt.
Die Lern- und Entwicklungszone verlangen Mut, über den eigenen Schatten zu springen. Aber es gibt viel zu gewinnen! Durch das Erlernen neuer Fähigkeiten und das persönliche Wachstum, weiten wir unsere Komfortzone.
Im Falle von Jochen würde das bedeuten, dass er eines Tages die Kundengespräche locker aus dem Ärmel schütteln kann – sie sind Teil seiner erweiterten Komfortzone geworden.
Das alles wäre so schön, wenn es da nicht noch die fünfte Zone gäbe. Und über diese Bescheid zu wissen, ist besonders wichtig. Sie wird meist als Panikzone bezeichnet und auch hier ist der Name Programm.
👉 Hätte Jochens Chefin ihn nicht schrittweise eingearbeitet, sondern direkt von ihm verlangt, zukünftig große Verantwortung für den Laden zu übernehmen, wäre er vermutlich auch in der Panikzone gelandet. Seine neuen Aufgabenbereiche hätten ihn überfordert, er hätte die Freude an seiner Arbeit verloren und vermutlich früher oder später gekündigt.
In der Panikzone lernen und wachsen wir nicht, wir gehen ein. Die Erfahrungen die wir hier machen, hinterlassen langfristig ihre Spuren, erzeugen Ängste, Vermeidungsverhalten und emotionale Brüche.
Vom Wachsen und Brechen in den Zonen
In unserem Alltag verlassen wir regelmäßig unsere Komfortzone – mal mehr, mal weniger freiwillig. Wie weit wir uns von ihr entfernen – also welche Zonen wir drumherum durchschreiten – das entscheiden wir nicht immer selbst. Besonders die Arbeit und soziale Kreise sind Treiber, die uns hin und wieder an die Grenzen unseres Wohlfühlbereichs und darüber hinaus bewegen. Zu wichtig ist uns das Ansehen, die Wertschätzung oder auch die Angst vor den Konsequenzen.
Ob das gut oder schlecht ist, ist immer situationsabhängig. Für dich selbst erkennst du das an dem Gefühl, das sich unmittelbar nach der Rückkehr in deine Komfortzone einstellt. Fühlst du dich energiegeladen? Berauscht? Selig? Dann war die Erfahrung offensichtlich eine erfüllende Reise durch die Lern- und Entwicklungszone. Plagen dich hingegen Schamgefühle, Zweifel und Grübeleien, hast du womöglich den Bogen zu weit überspannt oder nicht die Unterstützung und Sicherheit bekommen, die du gebraucht hättest.
Dann bricht etwas in uns und bleibt als stechender Schmerz zurück. Machen wir diese Erfahrungen immer wieder, drohen uns ernsthafte psychische Konsequenzen, wie Burnout oder Angststörungen.
Persönliches Wachstum spielt sich in einer Welt ab, die für unser Auge verborgen bleibt. Das Zonenmodell hilft uns, diese unsichtbare Welt besser zu verstehen. Wir können es nutzen, um Situationen zu reflektieren, unsere Gefühle besser einzuordnen und bewusst Grenzen zu überschreiten, um an herausfordernden Erfahrungen zu wachsen. Ebenso hilft es uns aber auch dabei, Grenzen zu setzen – um uns zu schützen und gesund zu bleiben.